Jens Mattern Jens Mattern
Jens Mattern Jens Mattern
Estland: vom Ostblockland zum Blockchainwunder
Das kleine Land will in der EU die Digitalisierung groß machen
Estland, Tallinn, Industriekomplex Telliskivi – hier wurde in den 50er Jahren Weltraumgeschichte geschrieben - die Sowjets bauten hinter den grauen Fabrikgemäuern den ersten Satelliten „Sputnik“ zusammen, der später zur Abschussrampe in die Kasachische Wüste transportiert wurde. Heute scheint sich dort erneut etwas von globaler Bedeutung zusammen zu brauen. Doch diesmal nicht streng geheim und abgeschirmt. Im Gegenteil.
Auf dem offenen Fabrikgelände mit seinen Graffitis, bärtigen Hippstern und veganen Caf és agieren Estland bekannteste Startup-Unternehmen. Sie sind eine Art Aushängeschild des Landes, das ab Juli erstmals den EU-Sitz übernehmen wird und die Digitalisierung Europas ganz vorn auf der Agenda hat.
Kaidi Ruusalepp, Gründerin und Geschäftsführerin des Finanz-Startups „Funderbeam“ empfängt im kleinen Großraumbüro, sie hat ein blubberndes Aquarium auf ihrem Schreibtisch und etwas antiquitiert - eine schwarze, analoge Schultafel dahinter, für die Teambesprechung.
Die Frau mit dem blonden Pagenschnitt schätzt die EU-Mitgliedschaft ihres Landes als Vertrauensbonus für internationale Geschäfte. Gleichzeitig sieht sie sich durch zuviel Bürokratie belastet. Alles müsse digitaler und somit schneller gehen. „Wir haben keine andere Wahl, sonst wird Europa ein faules fettes Tier“, so die Unternehmerin streng, während im Hintergrund sich vier ihrer in T-Shirts gewandete Mitarbeiter beim Tischfussball vergnügen. In naher Zukunft soll der offizielle Hauptgeschäftssitz von London ins digital fixere Asien verlegt werden.
Ruusalepp ist neben dem ehemaligen Präsidenten Toomas H. Ilves und Internet-Promoters eine der bekannten Persönlichkeiten der digitalen Erfolgsgeschichte des kleinsten baltischen Landes. Schon als IT-begabte zwanzigjährige Jurastudentin wirkte sie 1996 an der elektronischen Signatur Estlands mit, mit 29 wurde sie Leiterin der Börse in Tallinn, 2013 gründete sie Funderbeam. Das Unternehmen bietet eine Art Alternative zur Börse, die auf einer Datenbanktechnologie namens „Blockchain“ aufbaut. Diese Technologie ersetzt Vertrauenszertifikate von Institutionen der Börse, somit lassen sich Anteile von Startups global handeln und sei nicht hackbar. Durch die Erfahrungen der 49 Mitarbeiter in Recht, Börse und Technologie sei „Funderbeam“ derzeit global ohne Konkurrenz meint die Estin, zumal niemand der anderen Anbieter die Blockchain nutze.
Beim Verlassen des Raums verweist Ruusalepp auf den Kickerkasten, dort klebt ein Ettiket, dass eine Förderung der EU anzeigt. Ein Scherz, wie sie versichert, ihr Verständnis von Unternehmertum vertrage sich nicht mit Subventionen.
Dieses Selbstbewusstsein ist auch im „Pudel“ spürbar, einer angesagten Tallinner Kneipe, wo 13 verschiedene Craft-Biere zu unisono gesalzenen Preisen ausgeschenkt werden.
„Wir haben hier einfach die guten Leute, wir können das alles selbst anpacken“, so Hendrik Ussel, einst Schauspieler und heute Project Manager einer IT-Firma. Ussel zeigt auf seinem Smartphone eine App mit den sogenannten Icons, Bildchen, wo nicht nur Informationen wie etwa zu Steuern oder Gesundheitswesen eingeholt werden können, sondern wo die Esten oder angemeldeten Ausländer alle Formalitäten erledigen können.
Dies betrifft auch Ausländer außerhalb des Staatsgebiets – mittels einer sogenannten „e-residency“ kann von auswärts eine Firma gegründet werden.
Der Boom des estnischen Digital-Startups begann im Jahr 2011. „Damals verkauften vier Jungs, eigentlich eher gewöhnliche Leute, die hier jeder kannte, das Internet-Telefonsystem Skype an Microsoft“, erzählt Martin Aadamoos, selbst Gründer eines Startups für digitale Medien namens „Digix“. „Damals dachten viele – wenn die das schaffen, dann schaffen wir es auch“.
Die Entwickler von Skype hätten zudem nicht den Fehler gemacht „auf den Bahamas Ferraris zu kaufen, sondern sie investierten“.
Auch die meisten Skype-Mitarbeiter verspürten wenig Lust, in die Großstruktur Microsoft überzuwechseln. Somit blieben die Fachkräfte, das Know-How, und auch das Geld in Estland. Auch in Funderbeam arbeiten ehemalige Skype-Leute und stecken Skype-Investitionen.
Da der estnische Markt mit seinen 1,3 Millionen Menschen nicht rentabel sei, wäre die Orientierung von Anfang an global gewesen. Es werde in den Start Ups überall Englisch gesprochen, das sei wie McDonalds, es gebe keine nationale Komponente.
Ein wenig Estnisch ist auf dem Balkon der Film- und Medienschule, die Aadamsoos ebenfalls gegründet hatte, dennoch zu hören. Sein kleiner Sohn, den er auf dem Fahrradsitz mit gebracht hat, quengelt um die Aufmerksamkeit des umtriebigen Vaters und poltert mit dem Kinderfahrradhelm gegen die Holzfassade.
Die Mutter ist schließlich auch berufstätig – typisch für das Ostseeland, das gern mit Skandinavien verglichen wird. Die Arbeitszeiten sind jedoch länger, die sozialen Absicherungen weit geringer. Dafür gibt es Unternehmerfreiheiten. Mit seiner Firma Digix ermöglicht Aadamsoos kleinen Medienmedienunternehmen in seinen Räumlichkeiten zu wachsen, nach einer gewissen Frist müssen sie sich dann ein eigenes Büro suchen.
Auch Digix expandiert. Diesen Herbst will der 42-jährige eine erste Zweigstelle in der estnischen Stadt Narva aufmachen. Die Stadt liegt an dem gleichnamigen Fluss und der Grenze zu Russland. Ein traditioneller Handels- wie Kriegsschauplatz zwischen Russland und den Ritterorden, Skandinaviern im Laufe der Jahrhunderte.
Narva ist fast ausschließlich russischsprachig und gerade zwei Stunden von St Petersburg entfernt. Aadamsos will so IT-Talente aus Russland, Weißrussland und der Ukraine locken, denn die „Regierungen dort fördern kein Unternehmertum“.
Diese russische IT-Spezialisten sind bereits in Estland, denn die Regierung in Tallinn hat kürzlich eine Startup-Visum etabliert, so dass auch Nicht-EU-Mitglieder wie Russen leicht angestellt werden.
Wenn auch der estnische Unternehmer seine Firma als strikt unpolitisch sieht, bleibt ungewiss, wie der Kreml auf die Abwerbung seiner Spezialisten reagiert. Immerhin wurde auf die estnische Regierung 2007 der erste Cyberangriff gestartet, vermutlich aus den Reihen der russischen Jugendorganisation „Naschi“. Danach gründeten estnische Spezialisten das Unternehmen „Guardtime“, das die Regierung in Sachen digitaler Sicherheit betreut und mittlerweile auch internationale Rüstungskonzerne wie Lockheed Martin mit Blockchain-Technologie beliefert.
Einen „Sputnikschock“ wie die Welt vor 60 Jahren wird das Land bezüglich des Nachbarn Russland darum nicht so rasch erleben. Es scheint gewappnet – mit Technologie und Selbstbewusstsein.
Kurier, 4. Juli 2017
Anmeldung
Jens Mattern