Jens Mattern Jens Mattern
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Singet dem Herrn ein altes Lied
Leben im Damals: zu Besuch bei niederschlesischen Kirchgängerinnen
„Früher, das war, als Pastor Meißler noch den Gottesdienst hielt. Eine schöne Zeit. „Rübezahl“ hat er sein altes Auto genannt, mit dem er anreiste. Manchmal brachte er Hulla Hopp Reifen mit oder die Fläschchen von Omis penibel geordneter Kräutersammlung durcheinander, wenn er in Schönberg übernachtete. Aber böse sein konnte man ihm ja nie. Er war ja immer so menschennah. Am Schluss wollte man ihn zwingen, die polnische Staatsangehörigkeit anzunehmen. Dies wollte er nicht und wurde so ausgewiesen - wann war das noch gewesen? Ende der 50er Jahre?“

Sabine Hermann lädt in der Küche ihres kleinen Fachwerkhaus zum Tee. es richt nach Pflanzen und Hochwasserschäden. „Ich gebe keine Interviews“, hat sie gleich zu Anfang abwehrend erklärt. Lieber erzählt die 76jährige von früher.

Wie jeden zweiten Samstag kommen bei ihr Pastor Dawid Mendrok und Kantor Maciej Skrzypczyk nach Schönberg (auf polnisch Sulików) vorbei, um sie mit dem Kleinbus abzuholen.

Es geht zum Gottesdienst ins 20 Kilometer entfernte Lauban / Lubań. Die pensionierte Lehrerin ist Mitglied der Christophorigemeinde. Deren Pfarrhaus steht im 150 Kilometer entfernten Breslau und gehört zur evangelisch-augsburgischen Kirche, zu den polnischen Lutheranern. Es ist die einzige deutschsprachige Gemeinde des Landes und wohl die mit dem größten Radius.

Verstreut im ehemals evangelischen Niederschlesien leben die betagten Mitglieder und werden abwechselnd von Vikar Dawid Mendrok und Propst Andrzej Fober mit einem Fahr- und Gottesdienst betreut.

Der lang gewachsene Geistliche stellt einen Schemel vor den Bus, Frau Hermann steigt ein. Mendrok fährt an der graubraunen Schönberger Stadtkirche vorbei, einst evangelisch. Dort nahmen die Polen einige Wochen nach Kriegsende den Hahn vom Kirchturm, setzten ein Kreuz drauf und weihten die Kirche. Den evangelischen Bewohnern sagte der katholische Priester dann – „ihr könnt hier nicht mehr rein, wir müssten sonst die Kirche jedes mal neu weihen“ erinnert sich die Schlesierin.

Die Fahrt geht durch Kastanien-Alleen, vorbei an Höfen, Vorwerken und Feldern. Schönberg oder Sulików, Heidersorf oder Włosień, Lauban oder Lubań, Frau Hermann nutzt stets beide Namen.

Sie will sich auch nicht beklagen. Ihr Vater wurde nicht vertrieben, er musste bleiben, der Ingenieur wurde als Fachkraft gebraucht. Als junger Mann reiste er in Polen herum, um die Demontage elektrischer Anlagen anzuleiten, die dann in die Sowjetunion kamen. Im Zug traf er dann auf Menschen, die durch die Hand deutscher Besatzer alle Angehörigen verloren hatten. Doch nie sei er angegriffen worden. Zudem - die Polen, die 1945 die Häuser der Deutschen bezogen, die mussten ja auch ihre Heimat in der Ukraine verlassen. Und als vor zwei Jahren das Hochwasser bis einen Meter hoch im Haus stand, packte das halbe Städtchen bei ihr mit an.

In Lauban, in der schmalen gotischen Frauenkirche, warten die Gemeindeglieder bereits auf den Pastor; es sind gerade mal sechs.

„Sie wollen über unsere überfüllte Kirche schreiben“ meint eine gebeugte ältere Dame mit zwei Krücken schelmisch unter ihrem hellblauen Filzhut hervor.

Gertraut B., die ehemalige Gemeindevorsitzende, spricht weiter hervorragend Hochdeutsch. Polnisch hat sie nie lernen müssen oder wollen, sie heiratete einen Landsmann, der nicht ausgewiesen wurde und blieb zu Hause. „Ich verstehe nichts, rufen Sie später wieder an“, ist eines der wenigen Sätze, die sie seit Jahrzehnten auf Polnisch äußert.

Die Orgel, die ihr Schwiegervater einst gebaut hat, ertönt. “Ich steh’ mit einem Fuß im Grab“ singen die Menschen gegen die kraftvollen Pfeifentöne an, aus ihren Mündern flieht der sichtbare Atem.

Gesungen wird Lied 484 aus dem Schlesischen Provinzial Gesangbuch von 1908, in Frakturschrift gedruckt.

Hiob muss leiden und auf die Frage nach dem Warum bekommt er keine Antwort; das müsse man als Christ aushalten, predigt Mendrok.

Danach ist leider kaum Zeit dies auszudiskutieren, die Erlöserkirche im 70 Kilometer entfernten Hirschberg / Jelenia Góra muss erreicht werden. Dawid Mendrok braust mit seinem VW-Bus über die Landstraße, im Hintergrund leuchtet die weiße Schneekoppe durch ein Wolkenkranz.

„Zuhören, dass ist wichtig, die Frauen erzählen immer die gleichen Geschichten“, meint der 34jährige, dessen schlesische Großeltern ebenfalls Deutsche waren.
Es sind vor allem Frauen übrig geblieben, deren Väter nicht vertrieben wurden und die später Polen heirateten; nur in Liegnitz / Legnica gibt es noch Männer, die vor 1945 geboren wurden.

Zwei Gottesdienste pro Tag werden am Wochenende geschafft, für den Sonntag steht Breslau / Wrocław und Waldenburg / Walbrzych auf der Liste. Hinzu kommen gelegentlich Bibelstunde, Seelsorge und Mensch-Ärgere-Dich-Nicht-Spielen. Vor sechs Jahren hat er die Stelle angetreten und sei gleich akzeptiert worden – als Pfarrer wie als Enkel, meint er mit einem Lächeln.

Eine Stunde später sitzen Elisabeth Matusz und Charlotte Najmrocka.in der spätbarocken Hirschberger Kirche. Sie haben ihre Lesebrillen neben die Gesangbücher auf die weiße Bank gelegt und lauschen der Predigt, dann der Verlesung der Verstorbenen. Die Liste ist lang: Erst vor zwei Wochen war eine Beerdigung. Sie sind die letzten.
Kreuzworträtsel löst Frau Najmrocka am liebsten auf Polnisch, in den heutigen deutschen Heften seien ja so viele unbekannte Wörter dabei. Doch was den Glauben angeht, will sie weiterhin die alten deutschen Worte hören.

Deutsche Protestanten in Polen – für die kommunistische Führung in Warschau war das ein Übergangsproblem.
Direkt nach dem Krieg betreuten verbliebene deutschen Pfarrer die schrumpfenden Gemeinden, nach den letzten Ausweisungen, Ende der 50er Jahre, predigten polnische Lutheraner, mal auf polnisch, mal auf deutsch. Eine eigene Gemeinde durften die Deutschen nicht haben, zu stark waren die Spannungen zwischen Westdeutschland und der Volksrepublik Polen aufgrund der ehemaligen deutschen Ostgebiete.

Erst Dank der Einführung von Minderheitenrechten konnte nach der Wende der damalige polnische Vikar Ryszard Borski 1993 für die betagten Muttersprachler eine Gemeinde innerhalb der evangelisch-augsburgischen Kirche gründen, mit vollen Rechten.

Saßen in Breslau in den Neunzigern noch allein alte Menschen in den Bänken der spätgotischen Christopherikirche, so sind derzeit bereits 30 Kinder dabei. Sie gehören deutsch-polnischen Paaren, Expatriierten, Selbstständigen. Denn heute ist Breslau ein Zentrum für IT-Firmen, ein überregionaler Wachstumsmotor.

Waldenburg, die letzte Station der geistlichen Bustour, verkörpert die Vergangenheit. In der ehemaligen Bergarbeiterstadt dominiert im Gegensatz zur Boomtown an der Oder weiterhin das Grau.

Viele der deutschen Kumpel mussten nach dem Krieg weiter unter Tage; ihre Töchter chauffiert Mendrok heute zum Gottesdienst. Der Bus ist voll. Frau Roszak zeigt stolz Tauf-Fotos ihrer Urenkelin im Bus herum, wie bei den meisten sind die Nachkommen katholisch.
Ganz so ergeben, wie Hiob, über den Mendrok im Kappellenraum des lutherischen Gemeindezentrums predigt, wollen sich die Frauen allerdings nicht in ihr Schicksal fügen. Neben dem Aufschwung hat auch die deutsch-polnische Annäherung in Waldenburg noch Schwierigkeiten.
Ab und zu würde man sie noch anfeinden, wenn sie auf der Straße Deutsch sprechen, meinen Charlotte L. und Waltraut W.. Die heute 84jährige W. kehrte als Vertriebene illegal wieder zurück, da es in Berlin im Sommer 1945 für Flüchtlinge nichts zu essen gab. Ihre Lebensgeschichte ist bitter, zwei ihrer Kinder hat sie schon zu Grabe getragen, ihre Tochter hat Krebs. Dennoch erlaubt sie sich Scherze, mit einem Vorbehalt:
„Ich darf nicht lachen, mir ist letzte Woche mein Stiftzahn rausgefallen. Den hat mir noch ein deutscher Zahnarzt reingesetzt, vor 70 Jahren in Breslau. Bei einem polnischen Dentisten wäre der doch schon nach sieben Monaten wieder draußen, hahaha!“

„Ganz unumstritten ist unser Projekt nicht“, erklärt Propst Andrzej Fober, der sich abends in der restaurierten Altstadt von Breslau Zeit für ein Treffen nimmt.

Die Leitung der evangelisch-augsburgischen Kirche in Warschau fragt sich manchmal, weshalb bei so wenigen Menschen so viel Benzin verbraucht, soviele Kilometer gefahren werden müssen. Die polnischen Lutheraner, es sind gerade mal 70 000, standen in dem katholischen Land lange unter Verdacht, verkappte Deutsche zu sein und waren lange bei Kontakten etwas vorsichtig.

Der 54jährige Fober, der österreichische Vorfahren hat, will sich aus politischen Fragen heraus halten. Mit dem Bund der deutschen Vertriebenen gebe es keine Kontakte, wohl aber mit einem Mobiltelefon-Unternehmen - zwei Handymasten auf dem Breslauer Kirchturm sorgen für die finanzielle Unabhängigkeit.

Dazu gehört das Betreuen der Muttersprachler - bis die letzten gestorben sind.

Die Furche, 10. Januar 2013


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