Jens Mattern Jens Mattern
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Alles für mein Land
Finnland bereitet sich auf einen russischen Angriff vor
Finnisches Manöver – Alles für mein Land
Es hat drei Grad Kälte in Finnisch-Nordkarelien, eine dünne Schneedecke bedeckt den Waldboden, die Fichten, Kiefern und Birken wirken wie mit Puderzucker bedeckt.
Ein Mann in Uniform mit Kopfhörern schaut nicht auf die Schönheit des Waldes, denn er muss ihn mit seinem Blick durchdringen. Um ihn herum sind Soldaten in weißer Tarnkleidung, mit Funkanlagen und Sturmgewehren positioniert. Petteri Lokkala, Feldwebel der Reserve des „Utti Jäger Regiments“ erwartet den Feind, die Attacke der „Gelben“. Über Funk wird er dann als Koordinator dessen Position der Artillerie unterrichten, welche anderthalb Kilometer entfernt steht. „Wir werden den Feind massiv unter Beschuss nehmen, wir versuchen, seinen Angriff zu verlangsamen und so viel wie möglich Zerstörung anzurichten.“ so der 48-jährige sachlich.
„Kontio (Bär) 2022“ heisst das größte finnische Manöver in diesem Jahr, an dem Lokkala und weitere achttausend Soldatinnen und Soldaten teil nehmen. Sie sollen, wie es offiziell bei den finnischen Streitkräfte heisst, den Umgang „mit einer sich schnell entwickelnden Situation“ üben. Auf gut Deutsch – mit einer möglichen Invasion durch das Heer der Russischen Föderation fertig werden; die Grenze ist nur wenige Kilometer entfernt. Lange war das Verhältnis mit dem östlichen Nachbarn entspannt, doch durch die Krim-Annexion 2014 wurde die politische Führung des bündnisfreien Landes alarmiert, die Invasion in der Ukraine hat die Regierung in Helsinki schließlich bewogen, im Juni die NATO-Mitgliedschaft zu beantragen. Diese Übung ist ohne NATO-Soldaten geplant, doch in Zukunft wird es noch mehr Kooperation mit dem Bündnis geben.
Mit der Ukraine teilen die Finnen eine ähnliche Erfahrung – vor rund 83 Jahren, am 30. November 1939 griff die Rote Armee das neutrale Finnland an. Im sogenannten „Winterkrieg“ konnte sich das kleine Land lange erfolgreich verteidigen, bis Helsinki im März 1940 zu Gebietsabtretungen bereit war, um eine vollständige Okkupation abzuwenden.
Bei einer möglichen russischen Aggression in naher Zukunft gebe es jedoch einen Unterschied – der finnische Feldwebel wartet auf einen Panzerangriff: „die heutigen Panzer sind größer als damals, diese Bäume hier stellen kein Hindernis dar.“ Somit kann Russland an jeder Stelle der 1340 Kilometer langen zumeist bewaldeten Grenze mit Kräften des Heeres zuschlagen. Die damaligen Abwehrerfolge der Finnen beruhten darauf, dass die schweren Fahrzeuge der Sowjets nur an wenigen Stellen fahrbereiten Untergrund hatten und die zahlenmäßig unterlegenen Finnen dort den Widerstand konzentrieren konnten.
Es gebe allerdings eine Parallele zu der finnischen Taktik von vor 83 Jahren. „Wir attackieren, ziehen uns zurück und wiederholen das“, so Lokala, das werde auch jetzt geübt.
Noch bevor die „Gelben“ die finnischen Jäger fordern, erscheint der Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Staatspräsident Sauli Niinistö zur Manöverinspektion. Er ist wie seine Entourage aus Offizieren in einen weißen Kampfanzug gehüllt und stellt unvermittelt Fachfragen an die Soldaten–, Verteidigungsvorbereitungen, Feindlicher Vorstoß, Flankenangriff. “Gleich knallt es“ meint er abschließend. Die Konfrontation dürfen die Pressevertreter jedoch nicht erleben, sie werden mit dem Bus zu den Holzbaracken des Sotinpuro-Übungsgeländes gefahren - Soldatenheime mit Kantinen mitten im Wald. Ein Schild weist auf die Geschichte der Unterkünfte – auch in russischer Sprache. Wann waren hier das letzte Mal Russen? Beantworten mag das unter den Uniformierten niemand so recht.
„Sicherlich nicht nach der Krim-Annexion” so Oberstleutnant Arto Hirvelä, der relativierend hinzufügt, dass die Zusammenarbeit der finnischen Grenzschützer mit den russischen Beamten weiterhin gut laufe.
Dann erscheint Niinistö, für ihn wurde im Offizierskasino ein Hintergrund aus weißer Tarnfarbe mit grauen Sprenkeln für die Konferenz mit den Medienvertretern aufgehängt.
Der Konservative gilt als beliebter Staatspräsident, das bestätigen viele Finnen. Er ist zumindest der einzige, welcher sich bei einem ersten Wahldurchgang behaupten konnte, 2018 musste er nicht in die Stichwahl. Und auch sein langjährig artikulierter Wunsch, der NATO beizutreten, wurde angepackt.
Auf die Frage dieser Zeitung, ob er beim Militär wie in der Zivilbevölkerung ein erhöhtes Bewußtsein über eine russische Invasion feststellt, weist Niinistö auf eine „andersartige Geisteshaltung in Finnland“ hin, die sich über Jahrzehnte entwickelt habe. „Das bedeutet, dass Sicherheit die wichtigste Sache ist. Wir hatten ein Problem in der Vergangenheit. Und diese Frage, so denke ich, hat sich nicht verändert, sie ist nur sichtbarer geworden, durch die russische Invasion in der Ukraine. Unsere Bevölkerung nimmt das ernst.“
Gegenüber den einheimischen Medien lobt er vor allem die Motivation der Truppe. Es scheint, als ob Pressevertreter, Präsident, und Soldaten eine Einheit bilden: dass der 74-jährige für seinen Sohn am 24. Dezember den Weihnachtsmann gibt, wird dankbar aufgenommen, sowie dass Niinistö die Nacht auf dem Manövergelände rustikal im Armee-Zelt verbringt.
Wohl typisch finnisch. Als typisch finnisch gilt auch das Wort „Sisu“, welches besonders wichtig für die Armee sei. Markku Karponen, ein Bär von einem Mann und Offizier der Reserve, meint beim gemeinsamen Eintopf-Essen, dass es eine mentale Stärke bedeute, man gebe nicht auf. Im zivilen Leben arbeitet er als Kulturproduzent in der nördlichen Provinz und verhilft Kunstschaffenden zu Auftritten und Ausstellungen.
Karponen wirkt bei dem Manöver auch „kreativ“ –er streut „Fake News“ über Positionen und Koordinaten, die Soldaten müssten diese dann als solche erkennen. Der Mittfünfziger hat als Reservist als Major den höchsten Rang in den finnischen Streitkräften erreicht. Warum tut er das?
„Alles für mein Land“ meint er auf Deutsch und hält dabei seine Faust vor die Brust.
„Ich will mein Land verteidigen“, so Reservistin Katariina Räsänen bei der zweiten Manövervisite auf die gleiche Frage. Die 23-jährige liegt mit ihrem Sturmgewehr im Anschlag auf dem verschneiten Waldboden. Ihr unterstehen die sechs Soldaten, ebenfalls im Abstand von zehn Metern auf dem Boden liegend. Auch Frauen können den Streitkräften beitreten, sie durchlaufen dann die gleiche Ausbildung, wie die der wehrpflichtigen Männer. Zwanzig Prozent brechen ab, weil sie es körperlich nicht durchstehen. „Es ist hart“ gesteht die Studentin der Ingenieurswissenschaften, sie hat die gleiche Ausrüstung wie die Männer und darum seien auch ihre Stiefel drei Nummern zu groß, wie sie lachend verrät.
Auch ihre Gruppe soll den Feind aufhalten, bis eine finnische Verstärkung kommt, die den Feind mit schwereren Waffen vernichtet.
Drei Männer in grüner Ausbildung beobachten das Szenario, es sind die Ausbilder. Hier ist man in Sachen Namen oder Fotos abweisend und etwas einsilbig, Die Soldaten sollen sich genau überlegen, was sie tun, nicht überhasten, das ist das wichtigste, so ein Hauptmann. Ab und an donnert es : Artillerie-Manövermunition, ein Maschinengewehr knattert irgendwo im kalten Forst.
Bevor nun „Gelb“ mit seinen Panzern (Leopard 2A4) und Fußtruppen eine Offensive starten kann, muss der Pressetrupp erneut den Rückzug antreten, so befiehlt es Oberstleutnant Arto Hirvelä.
Der Bus bringt die Journalisten schließlich zurück in die Provinzstadt Nurmes. Die Stadt ruht auf einer schmalen Halbinsel auf dem großen Pielinen-See, dessen Schneedecke in der Nachmittagsdämmerung schon ganz grau erscheint. Am Ortseingang liegt der Soldatenfriedhof. Ein Feld beherbergt die Gefallenen des Winterkriegs (1939-1940) und eines mit den der folgenden Kriegshandlungen (1941-1945). Beide Grabstätten mit kleinen Steinkreuzen sind etwa gleich groß.
„All das waren Einwohner der Stadt“ so eine ältere Frau die den Autor dieser Zeilen auf Finnisch anspricht. Ihre Mutter habe den Krieg erlebt. Die Unterhaltung ist aufgrund von Sprachunterschieden mühsam, sie ist jedoch die erste Person aus Finnland, die es so offen ausspricht „Ja, ich habe Angst vor Putin.“
„Einen Alptraum“ nennt Teppo, ein älterer Verkäufer im Sportladen eine mögliche Invasion aus Russland, nachdem er zuerst über das baldige Eisfischen und die Eisdicke auf dem Pielinen-See gesprochen hat. „Unsere gute Armee und die NATO-Mitgliedschaft, das bildet bald eine Mauer gegen die Russen.“ so seine Hoffnung. Größere Version, veröffenticht Anfang Dezember 2022 in Frankfurter Rundschau, Rheinische Post, Kurier
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